Lyrik – Jänner 2025 von Helmut Voit

Der Gnom

Geheimnisvolles Fabelwesen

Der Gnom / LerinaArt/Shutterstock.com

In Märchen tauchen Fabelwesen an allen Ecken und Enden auf. Es gibt große, wie Riesen und Drachen, mittlere, wie Feen und Zauberer, und kleine, wie Zwerge und … Gnome. Über das scheue, winzige Völkchen weiß man wenig. Die Gnome sind so geheimnisvoll, dass sie nicht mal selbst etwas Genaueres über sich sagen können. Davon kannst du dich in diesem Gedicht überzeugen.

Leon Porträt Rechts

Hör dir den Vortrag des Gedichts an und versuche es dann selbst. Tipps zum eigenen Vortrag findest du in der Lyrik November.

Gedicht: Der Gnom

Gedicht: Der Gnom

Der Gnom

Vom Gnomenvolke stamm ich her.
Die Gnomen, das sind die Geheimnisvollen.
Sie sind nicht alt, und auch jung nicht mehr
Und können leben, solange sie wollen –
Solange sie wollen:
Vom Gnomenvolke stamm ich her.

Von wo sie kommen – man weiß es nicht,
Aus Nebeln, dahin kein Fuß mag dringen ...
Sie sind nur da – wie die Nacht, wie das Licht,
Und jeder will was andres vollbringen –
Und kann es vollbringen:
Vom Gnomenvolke stamm ich her.

Zu andrem hat jeder Geschick und Verstand;
Der hämmert, der pfeift, die graben, die blasen ...
Und dennoch sind alle wie Brüder verwandt –
O wüsstet ihr, wie gut sie es haben –
Wie gut sie es haben:
Vom Gnomenvolke stamm ich her.

[...]

Heut oder morgen wandt ich von hier.
Gleichviel: die andren werden nicht säumen;
Es kommen andre Gnomen nach mir
Mit neuen Geschichten, Wundern und Träumen –
Mit Wundern und Träumen:
Vom Gnomenvolke stamm ich her.

Dann sagt ihr wohl leise: Der Alte ist tot ...
Törichte Worte, törichtes Bangen, –
Bin, wie auf Strömen ein leichtes Boot
Euch nur entglitten, nur fortgegangen,
Auf Nebelschuhn, im Nebelkleid,
Ins Nebellland der Ewigkeit.

Josef Kiss
Nachdichtung aus dem Ungarischen von Heinrich Horvát (gekürzt)
 

Was heißt …

Gnom: kleines, menschenähnliches Fabelwesen
wandt: von „sich wenden“: weggehen

säumen: zögern
töricht: dumm
bangen: sich sorgen

Was macht ein Gedicht zu einem Gedicht?

Gleich auf den ersten Blick erkennst du, dass „Der Gnom“ in Versen und Strophen verfasst ist. Aber reicht das schon, um einen Text zu einem Gedicht, zu Poesie, zu machen?

Schreibst du ein längeres SMS
von dir noch einmal in Versen
und Reimen, wird daraus (leider)
noch kein Gedicht.

Poesie muss seine Wörter und Sätze auch zum Tanzen bringen. Das gelingt ihr durch einen bestimmten Rhythmus und oft durch Reime.

Neben der Form braucht ein Gedicht aber natürlich auch einen Inhalt. Richtig gut und spannend werden Gedichte durch eine poetische Sprache. Es gibt unzählige Sprachfiguren, die einen Text wie das Salz die Suppe verfeinern. Eines dieser Stilmittel ist dir beim Hören und Lesen von „Der Gnom“ sicher gleich aufgefallen. Es ist die Wiederholung.

Die Wiederholung von Silben, Wörtern und Textteilen ist ein alter Trick der Dichterinnen und Dichter. Du findest sie in uralten Texten genauso wie in Pop- und Rapsongs. Durch Wiederholungen kannst du dir nicht nur etwas leichter merken. Sie heben auch das Wiederholte besonders hervor und sagen uns, dass es wichtig ist. Und manchmal wirken sie, Abrakadabra, fast wie eine magische Formel.

Leyla Porträt Rechts

Im Quiz brauchst du keine Märchen zu erzählen, sondern nur die richtige Antwort anklicken. Falls du einen Begriff nicht kennst, sieh im Fachwortschatz zur Lyrik im September/Oktober nach!

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Lyrische Grüße von Helmut Voit