Interview mit Christine Piriwe, Beraterin bei „Rat auf Draht“

JÖ: Wie muss man sich die Beratung bei Rat auf Draht vorstellen? Jemand wählt die Nummer 147 … und dann?

Christine: Zunächst gelangt man in eine Wartschleife und erhält einen fixen Warteplatz. Es gibt 8 Warteplätze. Wenn man die Warteschleife nicht hört, ist man nicht drinnen. Sobald man sie hört, hat man einen fixen Warteplatz. In der Wartezeit hört man Musik und unser Angebot wird vorgestellt. Dann bitte nicht mehr auflegen, sonst wird man wieder heruntergereiht.  Das Allererste, was man hört, wenn man jemanden dran hat, ist: „Rat auf Draht, hallo!“ Alle Beraterinnen und Berater melden sich so. Das ist der Einstieg in das Gespräch.

Wie sprechen euch die Anruferinnen und Anrufer an? Mit Sie oder mit Du?

Die Anruferinnen und Anrufer und Beraterinnen und Berater sagen Du zueinander.

Wie lange ist die Wartezeit?

Die durchschnittliche Wartezeit liegt bei 2 Minuten, sie kann aber auch deutlich länger sein. Die Wartezeit ist abhängig von der Tageszeit. Am Wochenende kommt man manchmal gut durch – dann auch wieder nicht. Aber es zeigt sich kein echtes Muster.

Rufen viele heimlich an – ohne Wissen der Eltern? Und wenn ja: Warum eigentlich?

Ja tatsächlich. Viele nützen unser Angebot, gerade weil wir anonym sind. Warum sie heimlich anrufen? Weil es ihnen unangenehm oder peinlich ist oder weil es so starke Probleme mit den Eltern gibt, dass sie Angst haben, die Eltern könnten erfahren, dass sie sich Hilfe holen.

Müssen Kinder fürchten, dass die Nummer auf der Telefonrechnung aufscheint?

Im Einzelgesprächsnachweis auf der Telefonrechnung scheint die Nummer nicht auf. Das Gespräch findet man aber am Handy im Verlauf; das muss man löschen. Wenn man uns danach fragt, weisen wir die Anruferinnen und Anrufer darauf hin.

Gibt es Eltern, die ihre Kinder von sich aus anregen, bei euch anzurufen?

Ja, tatsächlich. Es gibt immer wieder Eltern, die aktiv den Kindern das Angebot setzen. Zum Beispiel bei Themen wie Trauer (wenn jemand Nahestehender gestorben ist). Oder bei Mobbing in der Schule. Manchmal rufen Eltern zuerst an. Sie hören sich unser Angebot an und geben es an das Kind weiter. Gerade bei jüngeren Kindern (10, 11, 12 Jahre), die sich selbst noch nicht trauen anzurufen, rufen Eltern manchmal gemeinsam mit dem Kind über Lautsprecher bei uns an.

Welche Möglichkeiten (außer Telefonat) gibt es noch, mit Rat auf Draht in Kontakt zu treten?

Wir haben die Chatberatung von Montag bis Freitag 18 bis 20 Uhr. Da haben Kinder und Jugendliche die Möglichkeit, in Echtzeit mit einer Beraterin, einem Berater zu schreiben. Dann gibt es auch noch die Onlineberatung: Das ist Beratung über Fließtext; sie ist für Anliegen, die nicht akut sind.

Das heißt, man bekommt nicht unmittelbar eine Antwort, aber man bekommt auf jeden Fall eine Antwort.

Die Online-Beratung ist vor allem da, wenn man sich etwas von der Seele schreiben möchte. Wir bemühen uns sehr, rasch eine Antwort zu schreiben.  Trotzdem kann es sein, dass man die Antwort erst in drei Tagen bekommt. Bei akuten Anliegen ist es besser, 147 anzurufen oder den Chat zu nutzen.

Treten mehr Mädchen oder Jungen mit euch in Kontakt?

Die meisten Anrufe bekommen wir von männlichen Personen, nämlich über 50 %. Die weiblichen Personen bevorzugen die Chat-Beratung.

Also die Burschen rufen an …

… und die Mädchen schreiben lieber. Und dann haben wir noch die Gruppierung von Personen, die uns kein Geschlecht angeben oder sich auch keinem Geschlecht zugehörig fühlen.

Also ist Divers-Sein ein Thema?

Ja, das ist ein absolutes Thema: divers sein, transgender … Es ist vor allem in den letzten 2 Jahren sehr stark gestiegen. Wir fragen auch die Personen, mit welchem Geschlecht sie sich identifizieren. Es ist nicht notwendig, das Geschlecht zu nennen oder zu sagen, welchem Geschlecht man sich zugehörig fühlt. Es ist aber hilfreich für uns in der Beratung. Vor allem, wenn es darum geht, dass wir gewisse Beratungsstellen aussuchen sollen.

Ihr vermittelt auch weiter, an andere Beratungsstellen?

Ja.

Wer ist als Beratungsstelle bei „transgender“ zu nennen?

„Courage“ ist eine Beratungsstelle, mit der wir gerne zusammenarbeiten. Die haben Jugendgruppen und es gibt die Möglichkeit, Einzelgespräche in Anspruch zu nehmen.

Was sind die häufigsten Themen für Kinder bzw. Jugendliche im Alter der JÖ-Leserinnen und-Leser?

Schulprobleme. Konflikte mit den Eltern. Mobbing. In WhatsApp-Gruppen Cybermobbing. Klassenchats, aus denen man ausgegrenzt wird. Die Peer-Group, aus der man ausgegrenzt wird. Weil beispielsweise gewisse Dinge nicht leistbar für einen sind, sei es Kleidung oder andere Dinge von materiellem Wert. Bei uns war es das Nike-Kapperl, und das war vielleicht noch etwas, das leistbar war. Oder das Adidas-Shirt. Jetzt sind das aber Marken, die ich mir als erwachsene Person nicht kaufe.

Weil es überteuert ist …

… wieeine Gucci-Tasche, weil ein Rapper sie im Musik-Video trägt. Oder Mobiltelefone, iPhones, AirPods … Vor allem um Weihnachten herum …

Also technische Gadgets.

Urlaube auch – wohin fahren ist immer wieder Thema. Viel ist da beeinflusst durch die Influencer*innen und Influencer, wie die das Leben leben ... Und das Thema Handy natürlich: Smartphone – ab wann? Und Internetnutzung. Es gibt viele Eltern, die aufgrund der Informationen, die sie bekommen, die Internetzeiten festlegen. Das wird oft als unfair oder als ausgrenzend erlebt.

Sind die Youtuberinnen und Youtuber, die Influencerinnen und Influencer, die einen großen Einfluss auf die Kinder und Jugendlichen haben, auch eine Inspirationsquelle – also positiv? Oder ist es eher das falsche Bild, das sie vermitteln? Der Druck, der ausgeübt wird – hinsichtlich Marken und so …

Das ist sehr unterschiedlich. Man muss unterscheiden: Sind die Influencerinnen und Influencer Personen, die ein Anliegen haben, eine Botschaft zu senden, oder sind es bloß Werbe-Ikonen?

Berufswunsch Youtuberin oder Youtuber … was sagst du dazu?

Es ist ein Beruf, mit dem man in die Öffentlichkeit geht. Es hat auch etwas mit Schauspiel zu tun. Man muss sich bewusst sein: Da ist eine Persönlichkeit, die ist privat. Die ist ganz – oder ein bisschen – anders als die, die da vor der Kamera steht. Also schaut euch das genau an: Es ist nicht immer alles so, wie es dargestellt wird. Und es ist harte Arbeit. Da wird z. B. vorher überlegt: Wie wird das Video geschnitten?

Man muss das Video planen, es bearbeiten und die technische Ausrüstung im Griff haben … und auch andere Kanäle bedienen wie TikTok und Instagram. Es ist also nicht nur lustig …

… also überlegt es euch gut, ob ihr da wirklich hinausgehen wollt mit eurem privaten Ich. Das unterschätzen viele. Denn dann sind gewisse Dingen nicht mehr möglich. Freundschaften, die in die Brüche gehen … Wenn ich eine Person des öffentlichen Lebens bin, kann ich nicht mehr spontan ins Kino gehen, ich kann nicht mehr spontan mit Freundinnen oder Freunden treffen, ich kann nicht mehr das Leben leben, das ich gerade habe.

Fast wie ein Starleben. Aber die wenigsten kommen dorthin. Eher gibt es dann vielleicht die Frustration, keine Likes zu haben oder keine Followerinnen und Follower.

Es wird kaum jemand berühmt, vor allem nicht in Österreich. Einige österreichische Youtuberinnen oder Youtuber gehen nach Deutschland. Es gibt übrigens einen Artikel auf der Rat-auf-Draht-Website: Was bedeutet es eigentlich, Youtuberin oder Youtuber zu sein.

Stichwort „Kinderrechte“ …

Kinder und Jugendliche können sich an die Kinder- und Jugendanwaltschaft wenden. Kinder haben Rechte und Pflichten. In Österreich werden sie größtenteils eingehalten. Wenn sie aber mal nicht eingehalten werden, hast du das Recht, dich dort zu melden.

Ukraine-Krieg? Macht er den Kindern Angst?

Am Anfang war die Sorge, dass der Krieg auch zu uns kommt. Danach folgte die Angst, dass Geschwister, ältere Brüder, speziell männliche Familienmitglieder in den Krieg ziehen müssen. Und dann die große Angst vor dem Atomkrieg.

Und Corona?

Es hat viele Anrufe gegeben. Schlafprobleme. Ängste: Angst vor der Schule, Angst vor Versagen, Zukunftsängste. Sorgen wie: „Werde ich die Schule schaffen? Gibt es denn überhaupt eine Zukunft für mich? Wird es wieder ein normales Leben geben?“ Ähnliches beim Klimawandel. Schlafprobleme. Sich nicht ernst genommen fühlen. Das Gefühl, nicht aktiv teilhaben zu können an ihrer Zukunft …  

Gab es in letzter Zeit einen Fall, der dich besonders berührt hat?

Ja, eine Person die sich wiedergemeldet hat, nachdem es einen Konflikt mit den Eltern gab. Da ging es um Rausschmiss. Das Gespräch mit uns und die Fragen, die wir zur Verfügung gestellt haben, haben geholfen, mit den Eltern zu sprechen.

Also gut ausgegangen.

Ja, ist gut ausgegangen.

Erfahrt ihr auch, wie es für die Anruferinnen oder Anrufern weitergegangen ist, nachdem ihr mit ihnen gesprochen habt? Gibt es so etwas wie eine „Nachbetreuung“?

Wir rufen nie aktiv an, außer in akuten Situationen. Wir erfahren es also nicht – außer die Person meldet sich oder auch die Eltern melden sich und bedanken sich.

Wird es dir manchmal langweilig, immer dieselben Probleme zu hören?

Nein, auch wenn es sehr ähnliche Probleme sind: Jede Person sieht das Problem ganz anders, erlebt das Problem ganz anders und braucht etwas ganz anderes. Jeder Anruf ist ein neuer Anruf, dem ich mich neu stelle. Jedes Anliegen wird individuell beantwortet.

Gibt es auch lustige Situationen?

Es ist oft sehr lustig. Gerade die Testanrufe. So nennen wir diese Scherzanrufe – aus Wertschätzung den Anrufenden gegenüber. Viele machen das, um zu schauen, wer ist denn da überhaupt am anderen Ende der Leitung. Man kann das ein-, zweimal machen, aber man soll nicht die Leitung blockieren. Weil sonst nimmt man den Platz jemandem weg, der wirklich Hilfe braucht. Aber man darf auch mal testen: Wer ist denn da auf der anderen Seite? Wie sind die denn so? Und wenn man sich nicht traut, über das eigene Problem zu sprechen, kann man auch sagen: Ich rufe für eine Freundin an. Lustige Situationen in meinem Beruf: Mir rappen manchmal Leute etwas vor oder erzählen mir Witze. Einer hat mich angerufen und gesagt: „Ich rappe dir etwas vor.“ Er wollte wissen, ob das gut ist. Ich habe ihm gesagt: „Was du mir vorrappst, ist ziemlich frauenfeindlich. Das taugt mir nicht. Aber du bist sehr begabt. Was hältst du davon, mich in einer Stunde noch einmal anzurufen und du rappst mir was vor, was nicht so übergriffig ist.“ Er hat wirklich noch einmal angerufen. Er wollte einfach Rückmeldung von einer erwachsenen Person, die das ernst nimmt.